Ilga Rekowski besucht die taubblindentechnische Grundausbildung/Reha, um sich auf die weitere Verschlechterung ihres Hörsehvermögens und auf ein Leben als Taubblinde vorzubereiten. Sie schreibt eifrig Tagebuch über ihre ganz persönlichen Eindrücke von einer Welt, die den meisten sehenden und hörenden Menschen unbekannt ist. Wie leben taubblinde Menschen? Wie verbringen sie Ihre Freizeit? Wie können Sie miteinander kommunizieren? Ilga Rekowski macht sich darüber viele Gedanken und verarbeitet das Erlebte in ihren Notizen.
Hannover, 29. Juni 2020
Nach zwei Jahren Wartezeit wird mein Traum wahr: nicht nach Indien, China oder Teheran, sondern ins Deutsche Taubblindenwerk Hannover, Ortsteil Kirchrode. Mitten unter meines Gleichen darf ich 14 Tage wohnen. Apartment neben Apartment mit Balkon nach Osten oder Westen. Mich guckt die Sonne nachmittags an und ich gucke ihr aus dem 3. Stock entgegen. Beten kann ich trotzdem nach Osten. Mein lieber Bruder, Ingo und seine Frau Tina, brachten mich hier her. Eine tolle Fahrt, mit kleiner Pause in Laatzen. Tina schrieb mir viele Zettel, ruck zuck waren wir am Ziel. Einige bekannte Gesichter, zum Beispiel R., die Tochter meiner Turntante E. und ein paar Andere, neue Mitarbeiter noch hinzu.
Zuerst begann das Aufnahmegespräch- Vorstellungen und Ziele. Bin ganz gespannt! Mir wurde mein Apartment gezeigt, der Gruppenraum und das Betreuerzimmer. Wegen Corona ist Kontakt im Gruppenraum z.Zt. nicht erlaubt. Der Speisesaal ist riesig, bestimmt auch 80 Plätze. Alle gehen außen am Handlauf. Es gibt Gegenverkehr, also immer aufpassen. Mein Sitzplatz wurde mir vom Betreuer gezeigt. Am Tisch warten- bis Betreuer kommt und fragt, was man essen möchte. Jeder Mitarbeiter bringt das Essen an den Tisch und räumt auch das Geschirr wieder weg. Salat, Spaghetti- Bolognese, hmmm lecker!
Nach dem Mittagessen - eine kleine Ausruhpause. Das Apartment ist wirklich sehr gemütlich: mit Sessel, Sofa, Tisch, Bett, Schreibtisch mit Drehstuhl, beste Beleuchtung, Nasszelle mit Dusche. Hier schmeckt das Leitungswasser und auch ein Willkommensgeschenk - drei unterschiedliche Mineralwasser. Mich erstaunt: ein eigener normal großer Kühlschrank. Traubensaft rein, Brot für Abendmahl auch. Der Trolley ist schnell ausgepackt. Wertsachen in den abschließbaren Schrank, Klamotten in den Wandschrank, persönlichen Schnick Schnack in den Nachttisch.
Jetzt klingelt es: Ein großes Licht geht an und ein Propeller macht viel Wind. Taubblinde können doch nicht hören, manche ein bisschen sehen. Ich mache S. die Tür auf. Hereinspaziert! S. herzlich willkommen! S. möchte mit mir spazieren gehen, kochen, backen, einkaufen oder ich habe eigene Ideen die wir gemeinsam machen können. Sie zeigte mir ihren Arbeitsbereich. Eine Küche, ähnlich wie in der Gemeinde, einen gemütlichen Gruppenraum mit großem Tisch, mehreren Stühlen, dahinter ein tolles Sofa. Ein Regal mit „Spielen“: Mensch ärgere dich nicht- mit roten, blauen, gelben und grünen Figuren. Sie unterscheiden sich nicht nur in Farbe, sondern auch in Form. In einem anderen Raum wird gebastelt, geklebt, gebatikt oder gehandarbeitet, kunstvolle Dinge sehe ich. Dann gehen wir auf eine Terrasse, gepflegt angelegt. Hier dürfen die Bewohner rauchen - in den Zimmern nicht. Kerzen, Stövchen etc. in Räumen sind auch verboten, elektrische Lichter sind erlaubt.
S. stellt mir ein paar Bewohner vor, denen wir begegnen und eine Büroangestellte namens Su. Su kenne ich seit 1 1⁄2 Jahren vom Taubblinden- Stammtisch. Wir hatten zusammen im Restaurant „Lebenslust“ Advent gefeiert. Zu diesem feinen Lokal war ich dann öfter gefahren. Es liegt zwischen Aegidientorplatz und Friedrichswall und ist berühmt durch selbst gebrautes Bier- kann ich nicht beurteilen.
Zurück zur Terrasse: An einer Scheibenwand stehen in Töpfen meterhohe Tomatenpflanzen in Blüte, teilweise schon kleine Früchte. Wie gut, dass unser Leben nicht nur von hören und sehen abhängt. S. sagt mir: Ilga riech mal und reibt ein Blatt- enorm duftet es. Unterschiedliche Tomatenpflanzen haben auch diverse Blätter. Noch ein bisschen pflegen und gießen, dann können Bewohner schmecken und genießen. Zeit zum Abendbrot zu gehen. An den Rändern teilweise nette Beete. Ich freue mich über Lavendel und erzähle S. von meinem Israel- Beet mit u.a. weißen und blauen Lavendel. Unweit vom Eingang ist das neue, restaurierte Hallenbad. S. hat auch Schwimmhäute zwischen den Fingern, durch Corona ein bisschen vertrocknet, wie bei mir. Ganz besonders fasziniert hat mich, wie herzlich S. mit den Bewohnern umging, wie liebevoll und freundlich. Ich sagte: „Alle Menschen sprechen eine Sprache, wenn ein Mensch den anderen liebt!“
Hannover, 4. Juli 2020: Sehe ich auf zu den Bergen?!
Fremdsprachen lernen: Indisch, Chinesisch (Mandarin), Teheran (Farsi) Nein!!! Lormen, Braille, PC mit zehn Fingern, woher bekomme ich Hilfe? Meine Hilfe kommt vom Herrn, der Himmel und Erde gemacht hat. Mit ihm werde ich möglichst viel schaffen - erlernen. „Aber immer locker bleiben" sagt meine Lehrerin R.. Sie hat Stress-Symptome bei mir festgestellt. R. ist sehr geduldig! Kann mir keine bessere Lehrerin wünschen! Die 6-er Punkte in Braille sind kleiner als Stecknadelköpfe und ganz dicht zusammengedrängt! Oh, wie will ich daraus Buchstaben ertasten und erkennen??? Weiße Fingerspitzen - Pause - Fingergymnastik - und dann weiter...
Lehrerin Ri. hat aus meinen „Gartenpfoten" ganz zarte "Tastinstrumente" hergestellt. Trotzdem ist die Blindenschrift noch schwer genug! Durch L. werde ich nicht zum Kettenraucher, sondern zum Kettenlormer! Z.B.: "Nashorn" - "Rippen" - "Knochen" - "Gelenk" Oder Personal Computer, Buchstabensalat. Ha, ha, ha, L. und Ri. bringen mir auch noch ein paar Gebärden bei "Wahrheit", "Leben" somit kann ich Johannes 14,6 gebärden. Halleluja!
Der Kontakt zu anderen Bewohnern ist für mich ein wenig eingeschränkt durch Corona: 1,5 m Abstand zum Nächsten, ständig Mund-Nasen-Schutz tragen und Hände häufig desinfizieren, machen. Das machen die Mitarbeiter auch ständig. Segnen kann ich Lehrer und Bewohner trotzdem.
Meine Erzieherin S. zeigte mir am Freitag, den 3. Juli den Berggarten in Hannover Herrenhausen, ganz einfach mit der U-Bahn Linie 5 zu erreichen. Im Berggarten: Kakteen, wie ich sie selbst hatte, bis wir Nachwuchs (Babys) bekamen. Jedoch diese stacheligen Gesellen sind mannigfaltig, riesig und sehr gepflegt, teilweise sogar mit Blüten. Im Tropenhaus wachsen viele Schöne Palmen etc. Draußen in den Töpfen, bestaunen wir blühende Pflanzen, die nicht winterhart sind: rote und blaue Fuchsien, Engelstrompeten, Zitruspflanzen mit Früchten.
Hannover, 7. Juli 2020
Gestern kaufte ich Ohropax - hähh??? Was soll das denn? Ja, und auch noch Geschirrtücher und Klammern habe ich gekauft, um "Blinde Kuh" zu spielen? Nein: ein schönes Würfelspiel, das komplett mit Würfel von den taubblinden Jugendlichen hergestellt wird - alle Achtung! So kann ich mit meinen Leuten und Ehemann Thomas, unseren Kindern Katharina, Martin und Laura aber auch mit meinem Bruder Ingo und Tina spielerisch und ohne die beiden Sinnesorgane ein Gemeinschaftsspiel erkunden und erleben.
Die Küche ist ausgezeichnet! Alle Mahlzeiten schmecken mir sehr gut. Morgens: eine große Kanne Milchkaffee, einen Obstteller - oft mit vier Früchten, meist zwei Vollkornbrötchen mit Butter, Honig und Marmelade. Mittags: abwechslungsreich - nur an meinem Aufnahmetag gab es Spaghetti Bolognese und Salat. Vielleicht sind manche Speisen mit einem indischen Gewürz gewürzt, aber das weiß ich nicht. Ein chinesisch - asiatisches Gericht habe ich schon genossen. Über "Falafel" zum Beispiel ein Gericht aus Israel, habe ich gestaunt. Ich habe in Israel selbst "Falafel" kennengelernt. Abends: Ich bestelle mir einen Teller mit Grünzeug, Brot, Butter, Käse und Wurst.
Text: Ilga Rekowski, Rehabilitandin im Deutschen Taubblindenwerk